Burnout bei pflegenden Angehörigen: Wann ist der Punkt erreicht, Hilfe zu suchen

Woran erkenne ich, dass ich selbst Unterstützung bei der Pflege benötige? Diese Frage stellt sich vielen pflegenden Angehörigen nicht gleich zu Beginn, sondern schleichend – oft erst dann, wenn die eigenen Kräfte schwinden. Mit dem demografischen Wandel in Deutschland nimmt die Zahl der pflegebedürftigen älteren Menschen stetig zu. Parallel dazu wächst auch die Gruppe informell pflegender Angehöriger – meist Ehepartner, Kinder oder Schwiegerkinder – und mit ihr die Herausforderungen, die sie körperlich, emotional, finanziell und organisatorisch tragen. Dieser Artikel möchte eine Orientierung bieten, wie Überlastung erkannt werden kann, wann es Zeit ist, Hilfe in Anspruch zu nehmen, und welche rechtlichen, sozialen und praktischen Möglichkeiten innerhalb der deutschen Pflegeinfrastruktur bestehen.

Die stille Last der Pflege – ein gesellschaftliches Phänomen mit individueller Tragweite

In Deutschland leben rund fünf Millionen pflegebedürftige Menschen (Stand 2023). Über 80 % von ihnen werden zuhause gepflegt – etwa die Hälfte ausschließlich durch Angehörige. Diese Zahl zeigt, wie essenziell die Rolle pflegender Angehöriger im heutigen Pflegesystem ist. Doch diese Form der Fürsorge bringt große Belastungen mit sich, die häufig übersehen oder unterschätzt werden.

Emotionale Aspekte: Zwischen Liebe, Verantwortung und Überforderung

Die Pflege eines nahestehenden Menschen ist oft von tiefer emotionaler Bindung geprägt. Was zunächst aus Liebe, Pflichtbewusstsein oder familiärer Tradition beginnt, kann sich mit der Zeit in Überforderung wandeln.

Typische emotionale Belastungen:

• Schuldgefühle, nicht genug zu leisten oder die Situation nicht allein meistern zu können
• Angst vor dem Fortschreiten einer Erkrankung oder dem Tod der geliebten Person
• Vereinsamung durch soziale Isolation
• Konflikte innerhalb der Familie, etwa durch ungleiche Aufgabenverteilung

„Viele Angehörige merken erst spät, dass sie selbst Hilfe bräuchten – sie stellen die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen immer über ihre eigenen. Dabei kann niemand dauerhaft für andere da sein, wenn die eigene Gesundheit leidet.“ – sagt Dr. Heike Mertens, Pflegewissenschaftlerin und Dozentin an der Universität Leipzig.

Körperliche und gesundheitliche Belastungen

Pflege ist körperlich fordernd. Ob es um das Heben, lagern, Mobilisieren oder die Unterstützung bei der Körperpflege geht – die tägliche Beanspruchung kann auf Dauer zu gesundheitlichen Problemen führen.

Typische körperliche Belastungen:

• Rückenschmerzen oder orthopädische Erkrankungen
• Schlafmangel und chronische Erschöpfung
• Verstärkter Stress mit Auswirkungen auf Herz-Kreislauf-System
• Infektanfälligkeit durch ein geschwächtes Immunsystem

Hinzu kommt, dass viele pflegende Angehörige selbst bereits ein höheres Lebensalter erreicht haben und gesundheitlich nicht mehr voll belastbar sind. Dies kann die Situation zusätzlich erschweren.

Finanzielle Herausforderungen

Viele Menschen reduzieren ihre Erwerbsarbeit oder geben sie ganz auf, um sich der Pflege eines Familienmitgliedes zu widmen – sei es aus Mangel an Alternativen oder aus moralischem Druck.

Mögliche finanzielle Auswirkungen:

• Einkommensverluste durch Teilzeit oder Berufsaufgabe
• Zusätzliche Kosten für Hilfsmittel, Medikamente oder pflegerische Unterstützung
• Unklare oder nicht ausgeschöpfte Ansprüche bei Pflegeleistungen

Dabei existieren in Deutschland diverse finanzielle Hilfen, wie das Pflegegeld für häusliche Pflege oder die Möglichkeit der Verhinderungspflege (§ 39 SGB XI), wenn die pflegende Person vorübergehend ausfällt. Doch nicht alle Betroffenen kennen diese Angebote oder wissen, wie sie beantragt werden können.

Burnout bei pflegenden Angehörigen – Symptome und Warnsignale

Im Kontext der Pflege spricht man von einem Burnout-Syndrom, wenn eine anhaltende körperliche, emotionale und psychische Erschöpfung eintritt, die nicht mehr durch Ruhephasen kompensiert werden kann. Gerade bei längerer Pflegedauer ohne Entlastung kann diese Form des Ausgebranntseins auftreten.

Typische Warnsignale für Burnout:

• Ständige Müdigkeit, auch nach ausreichender Schlafdauer
• Konzentrationsprobleme und zunehmende Vergesslichkeit
• Gereiztheit, Ungeduld bis hin zu Aggressionen
• Gefühl von Sinnlosigkeit oder innerer Leere
• Rückzug aus sozialen Beziehungen
• Körperliche Beschwerden ohne klare Ursache (z. B. Kopfschmerzen, Magen-Darm-Probleme)

„Ein Warnzeichen kann auch sein, wenn sich die Beziehung zur pflegebedürftigen Person verschlechtert – wenn aus Fürsorge Reizbarkeit oder Distanz wird“, erklärt Dr. Michael Hartung, Facharzt für psychosomatische Medizin in Köln.

Wichtig: Die ersten Anzeichen ernst zu nehmen und rechtzeitig über Entlastung nachzudenken, ist ein zentrales Präventionsmerkmal.

Rechtliche Rahmenbedingungen: Unterstützung innerhalb der Pflegeversicherung

Die gesetzliche Pflegeversicherung bietet ein breites Spektrum an Leistungen – vorausgesetzt, es wurde ein Pflegegrad anerkannt (Pflegegrad 1 bis 5). Entscheidend ist die Einstufung durch den Medizinischen Dienst (MDK bei gesetzlich Versicherten bzw. MEDICPROOF bei privat Versicherten).

Zentrale Leistungen für pflegende Angehörige:

Pflegegeld:
Wird monatlich gezahlt, wenn die Pflege durch Angehörige oder andere nicht professionelle Helfer erbracht wird. Höhe abhängig vom Pflegegrad (z. B. Pflegegrad 2: 316 €, Stand 2024).

Verhinderungspflege:
Bis zu 1.612 € jährlich für Ersatzpflege, wenn die Hauptpflegeperson z. B. durch Urlaub oder Krankheit verhindert ist (nach mindestens sechs Monaten Pflege).

Pflegezeit und Familienpflegezeit:
Gesetzlicher Anspruch auf unbezahlte Freistellung von der Arbeit (bis zu 6 Monate) bzw. teilweise bezahlte Reduktion der Arbeitszeit (24 Monate in Teilzeit).

Pflegekurse und Beratung:
Pflegt ein Angehöriger erstmals eine Person, bietet die Pflegekasse kostenlose Schulungen und eine individuelle Pflegeberatung an (§ 7a SGB XI).

Entlastungsbetrag:
125 € monatlich für zusätzliche Entlastungsangebote wie Haushaltshilfe, Betreuungsdienste oder Tagespflege.

Diese Leistungen sind teilweise kombinierbar und dienen ausdrücklich dem Ziel, Pflegende zu entlasten.

Institutionalisierte Unterstützung: Ambulant und stationär

Nicht immer ist es möglich oder sinnvoll, die gesamte Pflege allein zu übernehmen. Hier bieten sich verschiedene Formen externer Unterstützung an.

Ambulante Pflegedienste

Ambulante Dienste kommen ins Haus und übernehmen je nach Bedarf Körperpflege, Verbandswechsel, Medikamentengabe oder hauswirtschaftliche Tätigkeiten. Die Kosten werden anteilig je nach Pflegegrad von der Pflegekasse getragen.

Mögliche Leistungen:

• Grundpflege (Waschen, Ankleiden, Toilettengang)
• Behandlungspflege (z. B. Injektionen, Blutzuckermessung)
• Betreuung bei Demenz
• Unterstützung bei hauswirtschaftlichen Aufgaben

Tagespflege

Hier verbringt die pflegebedürftige Person tagsüber Zeit in einer Pflegeeinrichtung und wird dort betreut. Dies entlastet pflegende Angehörige insbesondere an Werktagen, ermöglicht aber weiterhin häusliche Pflege am Abend und Wochenende.

Stationäre Pflegeeinrichtungen (Pflegeheime)

Wenn die Belastung dauerhaft nicht mehr tragbar ist oder die pflegerischen Anforderungen zu hoch sind, kann eine vollstationäre Unterbringung sinnvoll sein. Zwar fällt die Entscheidung häufig schwer, doch sie kann auch eine Entlastung für alle Beteiligten bedeuten.

„Es ist kein Versagen, wenn man professionelle Hilfe in Anspruch nimmt – im Gegenteil: Es zeigt Verantwortungsbewusstsein gegenüber sich selbst und dem Pflegebedürftigen“, so Sozialarbeiterin Lena Fuchs vom Caritasverband München.

Selbstfürsorge als Voraussetzung für gute Pflege

Die Fähigkeit, für andere da zu sein, setzt voraus, dass man für sich selbst sorgt. Hier einige konkrete Tipps:

• Schaffen Sie regelmäßige Auszeiten – auch kurze Spaziergänge oder Gespräche mit Freunden wirken stabilisierend
• Tauschen Sie sich in Selbsthilfegruppen oder Online-Foren aus – das Gefühl, nicht allein zu sein, entlastet
• Nehmen Sie professionelle Beratung in Anspruch (Pflegestützpunkte, Hausarzt, psychologische Beratung)
• Nutzen Sie Entlastungsleistungen der Pflegekasse aktiv
• Planen Sie langfristig – machen Sie sich frühzeitig Gedanken über eigene Grenzen und Alternativen zur häuslichen Pflege

Fazit: Hilfe annehmen ist ein Zeichen von Stärke

Pflegende Angehörige tragen in Deutschland eine stille, aber fundamentale Verantwortung. Sie schenken Zeit, Arbeit, Zuwendung – oft über Jahre hinweg. Doch Pflege darf nicht zu einem Opferweg werden. Wer erste Anzeichen von Überforderung erkennt, sollte sich nicht scheuen, nach Unterstützung zu fragen.

Die deutsche Pflegeversicherung und zahlreiche soziale Angebote bieten konkrete Hilfen – von finanziellen Erleichterungen über professionelle Entlastung bis hin zu Beratungsstellen und rechtlichen Schutzmechanismen. Wichtig ist der Schritt, sich selbst als Teil des Systems zu begreifen und sich nicht hintenanzustellen.

„Gute Pflege beginnt mit der Anerkennung der eigenen Grenzen – pflegende Angehörige leisten Immenses und verdienen Respekt, aber auch konkrete Unterstützung“, sagt Dr. Heike Mertens.

Mögliche nächste Schritte für Betroffene könnten sein:

• Vereinbarung eines Gesprächs mit dem örtlichen Pflegestützpunkt
• Antragstellung auf Pflegegeld und Verhinderungspflege
• Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige
• Prüfung steuerlicher Entlastungen (z. B. außergewöhnliche Belastungen)

Pflege ist Teamarbeit – lassen Sie sich ein unterstützendes Netz knüpfen, das Ihre eigene Stabilität genauso im Blick hat wie das Wohl der pflegebedürftigen Person.

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