Wenn sich der Gesundheitszustand eines Elternteils oder nahen Angehörigen plötzlich verschlechtert, ist schnelles und besonnenes Handeln gefragt. Ein medizinischer Notfall stellt Angehörige wie auch professionelle Betreuungskräfte vor große Herausforderungen – emotional, organisatorisch und rechtlich. Gleichzeitig steht Deutschland als alternde Gesellschaft vor strukturellen Fragen: Wie gelingt eine würdevolle Versorgung älterer Menschen, wenn familiäre Ressourcen begrenzt sind? Wer weiß im Notfall, was zu tun ist – und wer entscheidet über medizinische Maßnahmen, wenn der Betroffene es nicht mehr selbst kann?
Dieser Beitrag widmet sich genau diesen Fragestellungen. Er bietet Angehörigen und Betreuungskräften eine fundierte Orientierungshilfe: Was passiert bei einem medizinischen Notfall im häuslichen oder institutionellen Umfeld? Welche rechtlichen Rahmenbedingungen gelten? Und wie kann ein sinnvoller Notfallplan aussehen, der sowohl die Bedürfnisse der Seniorinnen und Senioren als auch die der Pflegenden berücksichtigt?
Die Realität einer alternden Gesellschaft – warum Vorsorge so wichtig ist
Deutschland zählt zu den ältesten Gesellschaften weltweit: Schon heute ist fast jeder fünfte Mensch über 66 Jahre alt, Tendenz steigend. Mit der Zunahme des Alters steigt auch das Risiko für akute Verschlechterungen des Gesundheitszustands – etwa durch einen Schlaganfall, Sturz, Herzinfarkt oder Kreislaufzusammenbruch. Hinzu kommt: Viele ältere Menschen leiden an komplexen Mehrfacherkrankungen (Multimorbidität) sowie an kognitiven Einschränkungen wie Demenz.
In vielen Fällen leben Seniorinnen und Senioren nicht (mehr) vollkommen selbstständig. Sie werden von Familienangehörigen betreut oder erhalten Unterstützung durch ambulante Pflegedienste oder 24-Stunden-Betreuungskräfte. Doch nicht immer ist klar geregelt, wie in einem akuten Krisenfall gehandelt werden soll – insbesondere, wenn keine Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht vorliegen.
„In der Pflege ist die beste Vorbereitung auf einen Notfall eine offene Kommunikation und ein realistisches Einschätzen der Alltagsrisiken“, erklärt Dr. Claudia Mertens, Pflegewissenschaftlerin aus Berlin.
Medizinischer Notfall: Was zählt dazu und wie erkennt man ihn?
Ein medizinischer Notfall liegt immer dann vor, wenn der Zustand einer Person lebensbedrohlich sein kann oder lebensrettende Maßnahmen notwendig sind. Im Alter können typische Notfallsituationen beispielsweise sein:
- Plötzliche Bewusstlosigkeit (z. B. nach einem Sturz oder Schlaganfall)
- Akute Atemnot
- Starke Brustschmerzen mit Ausstrahlung in den linken Arm
- Starke Verwirrtheit, Orientierungslosigkeit oder Sprachstörungen
- Blutungen oder Verletzungen nach einem Unfall
Für Pflege- und Betreuungspersonal muss erkennbar sein, wann ein Hausarzt kontaktiert werden kann – und wann unmittelbar der Notruf (112) zu wählen ist. Wichtig ist dabei eine intuitive Reaktionsfähigkeit, die durch regelmäßige Schulungen unterstützt werden sollte.
Checkliste: Was ist im Ernstfall zu tun?
Ein klar strukturierter Notfallplan kann Leben retten. Er sollte persönlich auf den Gesundheitszustand des pflegebedürftigen Menschen zugeschnitten und allen Beteiligten bekannt sein. Ein bewährtes Modell ist die folgende Schritt-für-Schritt-Vorgehensweise:
1. Notruf absetzen
Wählen Sie unverzüglich die 112 und geben Sie die wichtigsten Informationen direkt an:
- Wer ruft an?
- Wo genau ist der Notfall eingetreten?
- Was ist passiert?
- Wie ist der Zustand des Betroffenen?
- Warten Sie auf Rückfragen und legen Sie nicht sofort auf.
2. Erste Hilfe leisten
Wenn Sie entsprechend geschult sind, leisten Sie Erste Hilfe im Rahmen Ihrer Möglichkeiten: stabile Seitenlage, Herz-Lungen-Wiederbelebung, Atemwege sichern. Für Betreuungskräfte ist es sinnvoll, regelmäßig Erste-Hilfe-Kurse aufzufrischen.
3. Unterlagen bereithalten
Für Rettungskräfte sind folgende Dokumente besonders wichtig:
- Versichertenkarte (Krankenversicherung)
- Notfallpass mit Medikamentenplan
- Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht
- Kontaktliste der Angehörigen und behandelnder Ärzte
„Ein laminierter Notfallzettel an der Eingangstür oder im Flurgewand kann im Ernstfall entscheidend sein“, so Andreas Vollmer, Rettungssanitäter aus Köln.
4. Angehörige informieren
Oft ist es die Betreuungskraft oder der ambulante Pflegedienst, der die nächsten Angehörigen benachrichtigen muss. Eine klar geregelte Kontaktkette hilft hier, Missverständnisse zu vermeiden.
Betreuungsrealität in Deutschland: Zwischen familiärer Fürsorge und externer Hilfe
In Deutschland lebt etwa ein Drittel der Pflegebedürftigen allein, ein weiteres Drittel im Haushalt von Angehörigen. Viele Seniorinnen und Senioren werden von einer Kombination aus familiärer Pflege, ambulanter Unterstützung und stundenweiser Betreuung versorgt. Dabei ist die Rolle der informellen Pflegepersonen zentral – sie übernehmen oft rund um die Uhr Verantwortung und sind im Notfall erste Ansprechpartner.
Doch Pflege durch Angehörige ist mit erheblichen Belastungen verbunden:
- Emotionale Erschöpfung durch Dauerverfügbarkeit
- Unsicherheit beim Umgang mit medizinischen Krisen
- Fehlendes Wissen über rechtliche Regelungen und finanzielle Unterstützung
Der Staat unterstützt pflegende Angehörige – etwa durch das Pflegegeld, Leistungen der Verhinderungspflege oder durch die Möglichkeit, kurzfristige Arbeitsverhinderung (Pflegezeit) zu beantragen. Wichtig ist jedoch die rechtzeitige Information und Nutzung dieser Hilfen.
Pflegegrad: Grundlage der Versorgung
In Deutschland ist die Einstufung in einen Pflegegrad die Voraussetzung für nahezu alle pflegebezogenen Leistungen der Pflegeversicherung. Die Grade reichen von 1 (geringer Unterstützungsbedarf) bis 5 (schwerste Beeinträchtigung).
Je nach Pflegegrad stehen unterschiedliche Leistungen zur Verfügung:
- Pflegegeld bei häuslicher Pflege durch Angehörige
- Sachleistungen für professionelle Pflegedienste
- Zuschüsse für kurzzeitige oder teilstationäre Pflege
- Entlastungsbeiträge für Alltagsbegleitung
Institutionelle Pflege: Wie handeln Pflegeheime und Dienste im Notfall?
In stationären Einrichtungen wie Pflegeheimen oder betreuten Wohnformen sind Notfallszenarien Teil der täglichen Routine. Hier greifen standardisierte Abläufe, die sich an den Vorgaben der Heimaufsicht und des Medizinischen Dienstes (MD) orientieren. Auch ambulante Dienste erstellen individuelle Notfallpläne mit jedem Klienten.
Pflegeheime
Pflegeheime müssen einen internen Ablaufsplan für Notfallsituationen bereithalten. Dieser regelt etwa:
- Wer setzt den Notruf ab?
- Welche Pflegekraft bleibt beim Bewohner, bis Hilfe eintrifft?
- Welche Informationen liegen dem Rettungsdienst vor?
Auch hier ist die Verfügbarkeit relevanter Unterlagen entscheidend – die Heimleitung muss sicherstellen, dass z. B. eine gültige Patientenverfügung übermittelt wird.
Ambulante Dienste
Ambulante Pflegedienste sind häufig nur stundenweise vor Ort. Entsprechend wichtig ist eine gute Kooperation mit Angehörigen und ein zugänglicher Notfallordner im Haushalt. Einige Dienste bieten inzwischen auch Notrufsysteme für betreute Haushalte an, um im Fall einer akuten Verschlechterung schnell reagieren zu können.
Rechtliche Vorsorge: Was Angehörige und Senioren regeln sollten
Patientenverfügung
Eine Patientenverfügung legt fest, welche medizinischen Maßnahmen im Ernstfall gewünscht oder abgelehnt werden. Sie tritt in Kraft, wenn die betroffene Person nicht mehr einwilligungsfähig ist. Ein Notfall ohne solche Verfügung kann bedeuten, dass lebensverlängernde Maßnahmen durchgeführt werden, obwohl diese vom Patienten nicht gewünscht wurden.
„Wir erleben immer wieder, dass Angehörige im Schockmoment Entscheidungen treffen müssen, ohne zu wissen, was der geliebte Mensch gewollt hätte“, so Dr. Leonie Baumgart, Fachanwältin für Medizinrecht in Hamburg.
Vorsorgevollmacht und Betreuungsvollmacht
Mit einer Vorsorgevollmacht kann eine vertraute Person rechtlich festlegen, wer in Gesundheits- und Vermögensfragen entscheiden darf. Ergänzt wird diese oft durch eine Betreuungsvollmacht, sollte das Gericht doch eine rechtliche Betreuung anordnen müssen.
Diese Dokumente sollten verständlich formuliert, unterschrieben und am besten notariell oder zumindest ärztlich bestätigt sein. Auch sollten alle Beteiligten wissen, wo sie im Notfall aufzufinden sind.
Emotionale Belastung: Der Notfall trifft nicht nur den Körper
Ein medizinischer Notfall ist nicht allein ein medizinisches Ereignis – er erschüttert auch das emotionale Gleichgewicht aller Beteiligten. Die Angst um das Leben des geliebten Menschen, Schuldgefühle, Hilflosigkeit oder Überforderung sind häufige Reaktionen.
Gerade pflegende Angehörige brauchen in solchen Situationen Unterstützung:
- Gespräche mit professionellen Pflegeberatungen
- Kontakt zu Selbsthilfegruppen oder Online-Foren
- Psychologische Beratung, speziell für pflegende Bezugspersonen
„Pflegende handeln oft über ihre Belastungsgrenzen hinaus. Im Notfall trifft sie die Nachricht wie ein Schock – und dann fehlen Kraft und Struktur“, sagt Dr. Heike Neuhaus, Psychologin mit Schwerpunkt Familienpflege in München.
Fazit: Vorausschau rettet Leben – und entlastet im Ernstfall
Ein medizinischer Notfall ist immer auch eine Bewährungsprobe – für das Vertrauen, das Organisationstalent und die emotionale Stärke aller Beteiligten. Je besser ein solcher Ernstfall vorbereitet ist, desto höher die Chance auf eine würdevolle und schnelle Versorgung des betroffenen Menschen – und desto geringer die psychischen und organisatorischen Belastungen für Angehörige und Pflegekräfte.
Ein Notfallplan sollte nicht erst dann erdacht werden, wenn es zu spät ist. Er sollte integraler Bestandteil jeder Pflegebeziehung sein – sei es im familiären oder institutionellen Kontext. Als nächste Schritte empfehlen sich:
- Kontaktaufnahme mit einer Pflegeberatung (z. B. bei Pflegekassen oder kommunalen Pflegestützpunkten)
- Erstellung oder Überprüfung einer Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht
- Überprüfung des bestehenden Pflegegrades und Ausschöpfung von finanziellen Leistungen wie Verhinderungspflege oder Entlastungsbetrag
- Schulung in Erster Hilfe für pflegende Angehörige und Betreuungspersonen
So vorbereitet lässt sich der nächste Schritt mit mehr Sicherheit, Empathie und Verantwortung gehen – im besten Interesse der Betroffenen wie auch derer, die sich tagtäglich für sie einsetzen.