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Mythen über Betreuungskräfte aus Osteuropa: Was wirklich stimmt

Die demografische Entwicklung in Deutschland stellt unsere Gesellschaft seit Jahren vor große Herausforderungen. Mit dem Fortschreiten des demografischen Wandels steigt der Anteil älterer Menschen kontinuierlich an. Immer mehr Familien stehen vor der Aufgabe, eine angemessene Pflege für ihre Angehörigen sicherzustellen – häufig neben Beruf, eigener Familie und alltäglichen Verpflichtungen. In diesem Zusammenhang gewinnt die sogenannte „24-Stunden-Betreuung“ im häuslichen Umfeld zunehmend an Bedeutung. Diese Betreuung wird oft von osteuropäischen Betreuungskräften übernommen, doch rund um diese Form der Pflege kursieren zahlreiche Mythen, Halbwahrheiten und pauschale Annahmen.

Ziel dieses Artikels ist es daher, die häufigsten Stereotypen über osteuropäische Betreuungskräfte aufzudecken und den Fakten gegenüberzustellen. Dabei werden die emotionalen, gesundheitlichen, finanziellen, organisatorischen und rechtlichen Aspekte gleichermaßen betrachtet. Auch im Kontext gesellschaftlicher und gesetzlicher Rahmenbedingungen in Deutschland soll die Auseinandersetzung mit diesem Thema nicht nur zur Aufklärung, sondern auch zur Entlastung pflegender Angehöriger beitragen.

Demografische Realität und ihre Auswirkungen auf die Pflege

Der Anteil der über 65-Jährigen liegt in Deutschland laut Statistischem Bundesamt bereits bei über 22 %, Tendenz steigend. Gleichzeitig fehlen in professionellen Pflegeeinrichtungen zunehmend Fachkräfte. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz schätzt, dass bereits heute mehrere zehntausend Pflegeplätze nicht besetzt sind – nicht wegen fehlender Nachfrage, sondern wegen Personalmangel.

Dementsprechend entscheiden sich immer mehr Familien für eine Betreuung im eigenen Zuhause. Der Wunsch der Senioren, in der vertrauten Umgebung alt zu werden, liegt dabei häufig mit den organisatorisch und emotional belastenden Aufgaben pflegender Angehöriger im Clinch.

„Eine häusliche Betreuung durch zusätzliche Kräfte kann eine dringend benötigte Entlastung sein – gerade wenn die Pflege mehrere Stunden am Tag beansprucht und Angehörige berufstätig sind“, erklärt Dr. Martin Schindler, Pflegewissenschaftler und Dozent an der Universität Hamburg.

Deshalb greifen viele Menschen in Deutschland auf sogenannte Live-in-Betreuungskräfte aus Osteuropa zurück. Polen, Rumänien, Bulgarien und die Slowakei zählen zu den Haupt-Herkunftsländern. Doch um diese Form der Betreuung ranken sich zahlreiche Vorurteile.

Häufige Mythen über Betreuungskräfte aus Osteuropa im Faktencheck

Mythos 1: „Osteuropäische Betreuungskräfte sind rund um die Uhr verfügbar“

Ein weit verbreiteter Irrtum betrifft die Arbeitszeit. Viele Familien gehen davon aus, dass eine Betreuungskraft, die im selben Haus lebt, ständig auf Abruf einsatzbereit ist. Dieser Eindruck wird auch vom Begriff „24-Stunden-Pflege“ genährt – eine Bezeichnung, die rechtlich irreführend ist.

Tatsache ist: Auch osteuropäische Betreuungskräfte unterliegen arbeitsrechtlichen Vorschriften. Laut europäischem Recht – insbesondere der Entsenderichtlinie – dürfen sie ebenso wie einheimische Arbeitnehmer nur eine begrenzte Höchstarbeitszeit leisten. In der Regel gilt:

  • Maximal 48 Stunden Arbeitszeit pro Woche, verteilt auf sechs Tage
  • Täglich mindestens 11 Stunden Ruhezeit ohne Unterbrechung
  • Ein freier Tag pro Woche

„Wer Betreuungskräften eine echte Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit abverlangt, verstößt nicht nur gegen das Arbeitsrecht, sondern riskiert auch langfristig die Qualität und Nachhaltigkeit der Betreuung“, warnt Dr. Schindler.

Mythos 2: „Sie sind unqualifiziert und sprechen kein Deutsch“

Es ist richtig, dass viele Betreuungskräfte keine formale Pflegeausbildung haben. Denn in der Regel übernehmen sie keine medizinische Pflege, sondern „unterstützende Tätigkeiten“ wie Haushaltsführung, Begleitung, Grundpflege und soziale Ansprache.

Allerdings verfügen viele über praktische Erfahrung aus früheren Einsätzen in Deutschland oder familiären Pflegeaufgaben in der Heimat. Die sprachliche Kompetenz variiert – während einige fließend kommunizieren können, verstehen andere nur einfache Anweisungen.

Tipps für Angehörige:

  • Schon beim Auswahlprozess auf Sprachkenntnisse achten – viele Vermittlungsagenturen geben Niveaus nach dem Europäischen Referenzrahmen an
  • Bildwörterbücher, Übersetzungsapps oder einfache Notizhilfen bereitstellen
  • Eine Eingewöhnungszeit einplanen, um gegenseitiges Vertrauen und ein Arbeitsverständnis zu entwickeln

„Sprachliche Barrieren können eine Herausforderung sein – mit etwas Empathie und Struktur lassen sie sich aber gut überbrücken“, sagt Birgit Lehmann, Pflegeberaterin bei einer kommunalen Anlaufstelle in Nordrhein-Westfalen.

Mythos 3: „Es ist eine legale Grauzone und eigentlich Schwarzarbeit“

Tatsächlich gibt es mehrere legale Modelle, nach denen Betreuungskräfte aus Osteuropa in Deutschland arbeiten dürfen:

  • Entsendemodell: Die Betreuungskraft ist bei einem Unternehmen im Heimatland angestellt und wird nach Deutschland entsendet. Das Unternehmen trägt Sozialabgaben im Heimatland – dieses Modell ist am weitesten verbreitet.
  • Arbeitnehmer-Modell in Deutschland: Die Betreuungskraft ist direkt bei der Familie angestellt – allerdings mit allen arbeitsrechtlichen Pflichten, inklusive Lohnsteuer und Sozialversicherungen. Dieses Modell ist rechtlich besonders sicher, aber selten in der Praxis.
  • Selbstständigkeit: Die Betreuungskraft meldet ein Gewerbe an – in der Regel problematisch, da Gerichte wiederholt entschieden haben, dass diese Tätigkeit fremdbestimmt und nicht selbstständig sei.

Seit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom Juni 2021 (Az: 5 AZR 505/20), das eine bulgarische Betreuungskraft zur Zahlung des Mindestlohns auch für Bereitschaftszeiten ermächtigte, sind viele Familien verunsichert. Es bleibt festzuhalten: Eine rechtlich vollständig wasserdichte Lösung existiert bislang kaum – eine gute Beratung und transparente Verträge sind daher unverzichtbar.

Mythos 4: „Eine Betreuungskraft ersetzt professionelle Pflegeleistungen“

Betreuungskräfte aus Osteuropa dürfen keine medizinischen Tätigkeiten verrichten. Diese sind ausnahmslos Fachpersonal (z. B. examinierten Pflegekräften) vorbehalten. Dazu gehören unter anderem:

  • Verabreichung von Medikamenten
  • Setzen von Injektionen
  • Wundversorgung

Diese Leistungen können jedoch durch ambulante Pflegedienste erbracht werden, die mit Unterstützung der Pflegeversicherung abrechnungsfähig sind.

In der Praxis kann es sinnvoll sein, verschiedene Module zu kombinieren:

  • Betreuungskraft für die Alltagsbegleitung
  • Ambulante Dienste für medizinische Pflege
  • Pflegeberatung durch Angehörige

„Pflege ist heute ein individuelles Mosaik aus Bausteinen – je früher man sich damit auseinandersetzt, desto tragfähiger sind die Lösungen“, betont Anna Vogt, Pflegeberaterin der AOK Berlin.

Mythos 5: „Osteuropäische Betreuungskräfte haben keine Rechte“

Dieser Mythos betrifft nicht nur moralische, sondern auch rechtliche Aspekte. Betreuungskräfte haben Anspruch auf faire Arbeitsbedingungen – unabhängig von ihrer Herkunft.

Wichtige Rechte sind:

  • Anspruch auf Mindestlohn (12,41 Euro brutto, Stand 2024)
  • Regelmäßige Freizeit und freie Tage
  • Ausreichende Unterbringung im Haushalt (eigener Raum, Zugang zu Bad und ggf. Küche)
  • Krankenversicherung und Unfallabsicherung, insbesondere im Entsendemodell

Verletzungen dieser Rechte führen nicht nur zu physischen und mentalen Überlastungen, sondern können auch juristische Konsequenzen für Familien haben.

Alternative und ergänzende Pflegeformen in Deutschland

Stationäre Pflegeeinrichtungen

Trotz personeller Engpässe und begrenzter Kapazitäten sind Pflegeheime für viele Hochbetagte eine unverzichtbare Lösung – etwa wenn komplexe Krankheitsbilder wie Demenz, Sturzneigung oder Pflegegrad 4 oder 5 vorliegen.

Doch auch hier existieren Vorurteile:

  • Heime seien unmenschlich und anonym
  • Die Versorgung sei schlechter als zu Hause
  • Ein Umzug sei das „Ende der Selbstbestimmung“

Diese Sichtweisen sind stark einzelfallabhängig. Gute Einrichtungen setzen auf biografieorientierte Pflege, regelmäßige Aktivierung und Angehörigenarbeit. Der zentrale Erfolgsfaktor ist auch hier: Rechtzeitige Information und realistische Erwartungen.

Ambulante Dienste und Tagespflege

Ambulante Pflegedienste arbeiten mit familiären Betreuungskonzepten zusammen. Leistungen können über die Pflegeversicherung nach SGB XI abgerechnet werden, abhängig vom Pflegegrad (1–5).

Ergänzend kann Tagespflege genutzt werden – etwa an Werktagen, wenn Angehörige arbeiten. So entsteht ein Mix aus professioneller Pflege und häuslicher Geborgenheit.

Finanzielle Hilfen, die hier relevant sind:

  • Pflegegeld, je nach Pflegegrad zwischen 332 und 947 Euro monatlich (Stand 2024)
  • Verhinderungspflege – bis zu 1612 Euro jährlich z. B. für Urlaube oder Krankheit der Pflegeperson
  • Kurzzeitpflege als Übergangslösung

„Pflege muss nicht nur menschlich, sondern auch organisatorisch passen – die Kombination verschiedener Formen schafft Spielräume“, unterstreicht Klaus Brenner, Sozialpädagoge mit Schwerpunkt Altenhilfe in München.

Konkrete Empfehlungen für Angehörige

Ein Pflegearrangement zu gestalten, ist eine komplexe und oft emotional belastende Aufgabe. Für Angehörige empfiehlt es sich daher:

  • Frühzeitig das Gespräch mit Beratungsstellen zu suchen (z. B. Pflegekassen, Pflegestützpunkte)
  • Rechtliche Aspekte sorgfältig zu prüfen, insbesondere beim Einsatz von Betreuungskräften aus dem Ausland
  • Familienintern eine transparente Aufgabenverteilung abzustimmen
  • Regelmäßige Kommunikation mit der Betreuungskraft zu etablieren, ggf. in Form eines Wochenplans oder Pflegeprotokolls
  • Zeit für Entlastung und Selbstfürsorge einzuplanen – auch pflegende Angehörige haben Grenzen

Fazit: Zwischen Ideal und Realität einen gangbaren Weg finden

Die Entscheidung für eine osteuropäische Betreuungskraft ist keine schnelle Lösung, sondern ein sensibler Prozess. Mythen und Vorurteile erschweren oft den Blick auf das Wesentliche: Wie kann einem Menschen im Alter ein würdevolles, sicheres und möglichst selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden?

Mit realistischen Erwartungen, rechtlicher Klarheit und menschlicher Empathie sind familiennahe Pflegekonzepte eine wertvolle und tragfähige Option – oft in Kombination mit professioneller Unterstützung.

Es lohnt sich, weiterzudenken: Kontaktieren Sie eine lokale Pflegeberatung, informieren Sie sich über steuerliche Entlastungen oder prüfen Sie mögliche Förderungen für ambulante Pflegedienste. Denn wer gut informiert ist, kann besser entscheiden – und trägt dazu bei, Pflege menschlich und zukunftsfähig zu gestalten.

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